Ein Tag in Beijing / Teil 2

Ein Tag in Beijing

Nach einem geschäftigen Vormittag in der Klinik gehen Jon und ich in einem benachbarten Restaurant essen. Es ist eine sogenannte Nudelküche. Dort bekommt man eine große Salatschüssel in die Hand und darf sich von einem Büffet Einzelzutaten für seine Suppe aussuchen. Es gibt bekannte Gemüsesorten wie Brokkoli und Blumenkohl sowie exotische Gemüse und Grünzeug, verschiedenste Algen, Pilze, Eier, Fleisch und Tofuvariationen. Ich gebe dem Koch meine “Komposition” und dieser macht innerhalb von 10 Minuten eine köstliche Nudelsuppe daraus.

Nach dem Mittagessen machen wir einen Spaziergang zu Jons Appartment. Es befindet sich in einem fünfzehnstöckigen Hochhaus, von denen es so viele in Beijing gibt. Der traditionelle Hutong dieser Gegend wurde abgerissen woraufhin die Bewohner in diesen Hochhäusern untergebracht wurden. Was für uns als unerwünschter und willkürlicher Eingriff der kommunistischen Regierung erscheint, ist für viele Hutongbewohner eine willkommene Verbesserung ihres Lebensstandards. Es ist zugegebenermaßen weniger schön und romantisch, allerdings sind die Heizungen (und der Winter in Beijing ist kalt!), die Wasserversorgung und die hygienischen Einrichtungen in den Hochhäusern um Klassen besser als in den alten Backsteinhäusern der Hutongs.

Dr. Wang Ju Yi in Rothenburg Deutschland

Am Nachmittag gehen wir Dr. Wangs Fallbeschreibungen durch bei deren Behandlung Jon zu einem großen Teil selbst anwesend war. Einen Fall nach dem anderen besprechen wir: Beschwerden, Pulsbild, Zungenbefund und – als wichtigstes Element der Diagnose – die getasteten Veränderungen an den Meridianen. Dann folgen die TCM-Diagnose, zur Behandlung ausgesuchte Meridiane, Punkte auf den Meridianen und das Ergebnis der 1., 2., 3. usw. Behandlung. Bei der Besprechung der Fälle fällt mir immer wieder auf mit wie wenigen einfachen Punkten Dr. Wang oft langjährig kranke Patienten geheilt hat. Das ist es was wohl was einen Meisterakupunkteur ausmacht: Die exakte TCM  Meridian Diagnose und darauf aufbauend aus den 500 möglichen Punkten die 4-5 exakt richtigen auszusuchen. Eine Kunst an der man sein ganzes Leben lernen kann…

Der morgendliche Kaffee hat längst seine Wirkung verloren und Jon beginnt nach chinesischer Art, guten Olong Tee aufzugießen. Olong Tee ist grüner Tee, der leicht fermentiert ist und dadurch ein reicheres Aroma bekommt. In China hat man zum Teezubereiten eine kleine Tasse mit Deckel, in die eine ordentliche Portion Teeblätter gegeben wird. In diese Tasse wird heißes Wasser gegossen und nach einigen Sekunden Ziehzeit in die Tasse zum Trinken umgegossen. Olongtee kann viele Male aufgegossen werden und so hat man immer heißen Tee in seiner Tasse und einen wachen Geist. Und so geht es den ganzen Nachmittag: Tee trinkend folgen wir den Gedanken und Behandlungsverläufen Dr. Wangs, dem Genius der Akupunktur. So gegen 17:30 Uhr verabschiede ich mich.

Ich mache einen langen Spaziergang nach Hause, um nach so viel mentaler Arbeit meine Glieder noch etwas zu bewegen. Mein Weg geht von der Raffles Mall über die Geisterstraße. Hier befinden sich etliche Restaurants und hunderte von Menschen sitzen am Abend auf kleinen Hockern auf dem Bürgersteig und essen und quatschen. Von der Geisterstraße treffe ich auf die Yonghegongstraße, die mich nach Süden vorbei an Obst-, Gemüse-, Handy- und Teeläden  zu dem Hutong bringt, in dem ich wohne. Ich fühle mich wohl hier im Fu Xue Hutong. Fu Xue heißt “Palast des Lernens” und ich meine, hier bin ich richtig.

Am Abend mache ich mir am Gasherd mit dem Wok noch ein kleines Abendessen. Dann schreibe ich mit Barbara noch ein paar Zeilen per WeChat (dem chinesischen Whats App). So geht mein Tag zu Ende und am nächsten Morgen erwarte ich einen neuen ereignisreichen Tag …